DAS “GROSSE MYSTERIUM” ALS QUELLE DER KREATIVITÄT
Konzertreihe Akkordeon grenzenlos (III), April 2016
Nein, Stefan Hussongs hohe Akkordeonkunst überwältigt nicht einfach. Sie berührt. Sie fesselt. Sie bewegt. Sie trifft ins Herz. Sie lässt aufhorchen. Sie geht in die Tiefe, führt zum Denken: Über das Wesen der Musik, über ihre Sprache, über den Umgang mit Musik.
Alfred Thiele
Trossingen. Für den Akkordeonisten Stefan Hussong, ausgezeichnet mit renommierten internationalen Preisen, einst Schüler der Trossinger Akkordeonlegende Hugo Noth und heute Professor an der Würzburger Hochschule gilt das, was Nikolaus Harnoncourt in seinen musikphilosophischen Betrachtungen so treffend auf den Punkt gebracht hat: Musik wird bei ihm zur „Klangrede“, sein virtuoses Spiel, seine Interpretationen und seine Kompositionen sind dazu angetan, zu einem neuen, tieferen, weniger oberflächlichen Verständnis von Musik zu führen. Und das ist nicht nur wünschenswert, sondern auch wertvoll angesichts einer Gegenwart, die musikalische Kunstwerke zu „bloßen Ornamenten“ degradiert, um „leere Abende durch Opern- und Konzertbesuche zu garnieren, öffentliche Festlichkeiten herzustellen oder auch um mittels des Radios die Stille der häuslichen Einsamkeit zu vertreiben oder zu beleben“, um Harnoncourt einmal mehr zu zitieren. So wurde Stefan Hussongs Gastspiel auch beim Trossinger Festival „Akkordeon grenzenlos“ im Duo mit dem exzellenten Pianisten Armin Fuchs am Mittwoch in der bestens besuchten Kulturfabrik Kesselhaus zu einem „großen“ Abend im bestens Sine des Wortes – zu einem Konzert von bleibender Erinnerung in Zeiten tagtäglicher musikalischer Reizüberflutung.
Im Mittelpunkt des Abends stand die Avantgarde mit der japanischen Komponistin Keiko Harada, die selbst im Publikum saß, um die Aufführungen mitzuerleben. In ihrem großen, fast dreißigminütigen Zyklus „f-fragments“, der von Stefan Hussong und Armin Fuchs vor einem gebannt lauschenden Publikum ausdrucksstark, dynamisch fesselnd und feinfühlig interpretiert wurde, setzt sich Keiko Harada mit der verheerenden Nuklearkatastrophe in Fukushima anno 2011 in ihrer japanischen Heimat auseinander. Die Komposition, entstanden ein Jahr nach dem furchtbaren Unglück, bringt mit musikalischen Ausdrucksmitteln die dramatische Spannung zwischen der Energie des menschlichen Körpers und der ihn vernichtenden Kraft der Radioaktivität bewegend und tragisch zum Ausdruck. Keiko Harada „ist eine Seltenheit unter den modernen Komponisten, insofern als sie das große ‚Mysterium‘, die Regung ihrer eigenen Seele, als Quelle ihrer Kreativität akzeptiert“, schreibt der japanische Soziologe und Kulturwissenschaftler Ayumu Yasutomi über die 1968 geborene Künstlerin: „Es scheint, als ob ihr Gehör den Klang wahrnehmen kann, in dem ein Blatt lebt, den Klang, den ein Wassertropfen an das Universum aussendet. Eine rätselhafte Kraft ist hier am Werk, eine Kraft, die zuhört und imaginiert, Eindrücke in konkrete Formen gießt, sie zu Notenschrift verarbeitet und Musiker dazu bringt, Noten zu spielen, von denen sie geschworen haben, dass sie unspielbar seien.“
Es ist nicht leicht, wenige Minuten nach dieser intensiven Schöpfung, die schier sprachlos macht, andere Musik zu hören. Mit Astor Piazzollas melancholischem „Preludio 9“ – „Todo Buenos Aires“, das zu den schönsten Stücken im Schaffen des Argentiniers nach seiner Quintett-Gründung zählt, hatten Hussong und Fuchs allerdings eine Komposition gewählt, die das zuvor Gehörte nicht mit Klängen „übertünchte“, sondern in diesem Augenblick sogar eher noch intensivierte.
Großen Beifall bekam nach der Pause Keiko Haradas an diesem Abend uraufgeführte „Devil Fire Tarantella“, der Hussong gleich zwei weitere zeitgenössische Kompositionen folgen ließ: John Cages „Dream“ von 1948 in einer Version für Akkordeon solo sowie „High Way for One“ der 1953 geborenen Komponistin Adriana Hölszky ebenfalls für Solo-Akkordeon. Als virtuoser, sensibler Pianist und Klangfarbenzauberer zeigte sich Armin Fuchs bei seinem Soloauftritt mit zwei Etüden von Claude Debussy, ehe in berührender Klangschönheit vier bekannte Choralvorspiele von Johann Sebastian Bach in der Bearbeitung für zwei Klaviere von György Kurtág zu erleben waren, in denen der zweite Klavierpart Stefan Hussong und seinem Akkordeon zufiel. Mit „Novitango“ und „Tanguedia III“ des Publikumslieblings Astor Piazzolla sowie dem wunderschönen japanischen Volkslied „Der Mond hinter dem verfallenen Schloss“ in der Bearbeitung von Keiko Harada klang dieser wohl unvergessliche Abend, von dem man sich weitere wünschen würde, schließlich aus.
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